Die grösste Ketzerei – das Versäumnis zu lieben

Im zweifellos schönsten, jemals aufgezeichneten Gebet, betete Jesus zu seinem Vater, dass seine Jünger „eins seien … so wie Du in mir bist und ich in Dir bin“, damit „die Welt glaubt, dass Du mich gesandt hast“ (Joh. 17,21). Mit anderen Worten: Jesus betete, dass wir, die wir Christus als Herrn bekennen, gemeinsam die perfekte liebende Einheit des Vaters und des Sohnes widerspiegeln würden. Nicht nur das, sondern Jesu Erwartung war, dass die Welt durch das Zeugnis dieser Liebe zum Glauben an ihn geführt würde! „Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr einander liebt“ (Joh. 13,35).

Wenn ich dieses Gebet höre frage ich mich, wie Gott jetzt über die Kirche denkt. Ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass dies viel Spekulation erfordert. Die Kirche hat sich in Tausende von konkurrierenden und manchmal zornigen Fraktionen zersplittert. In einigen Kreisen – und, leider sind das tendenziell die lautesten und am öffentlichkeitswirksamsten – werden Schwestern und Brüder, die es wagen außerhalb der vorgegebenen Linien zu malen, leichtfertig „verabschiedet“ und mit dem Etikett „Ketzer, Irrlehrer“ versehen – oder vielleicht sogar in die Hölle verbannt. Eigentlich hoffte Jesus, die Kirche würde zum Beweis, dass Er wirklich existiert. Stattdessen ist die Kirche heute das beste Argument gegen Ihn! Anstatt eines Werkzeugs, welches Menschen in das Reich Gottes bringt, ist die Kirche das größte Hindernis, weswegen die Menschen draussen bleiben. In der breiten Gesellschaft sind die Christen für viele Dinge bekannt, aber ihre tiefe Liebe füreinander – geschweige denn für „Sünder“ und „Feinde“ – steht nicht auf dieser Liste (siehe Kinnaman & Lyons, Unchristlich). In diesem Licht betrachtet wirkt die wunderschöne Sicht der Kirche, welche Jesus in seinem Gebet in der Nacht als er verraten wurde zum Ausdruck brachte – die Vision einer Kirche, die die vollkommene Liebe des dreieinigen Gottes widerspiegelt – schon fast komisch.

Was sollen wir nun tun? Egal, was man sonst auch sagen könnte, ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass wir uns auch nur ansatzweise in die richtige Richtung bewegen werden, es sei denn wir entscheiden, dass die Liebe füreinander (und für alle anderen) höhere Priorität hat, als die Richtigkeit unserer Lehren zu beweisen, zu schützen und durchzusetzen.

Ich bin fast sicher dass jetzt einige denken – „Da kommt wieder dieselbe Leier. Im Namen der Liebe wird die richtige Lehre gefährdet. Noch mehr flauschiger, post-moderner, sentimentaler Müll!“ Hatte ich recht?

Tatsache ist, dass überhaupt nichts flauschiges, post-modernes oder sentimentales daran ist, wenn man die Liebe über dogmatische Korrektheit stellt, diese Überzeugung durchdringt nämlich das Neue Testament! Um es genau zu sagen, wir sollten nicht einmal daran denken, „Liebe“ und „doktrinäre Korrektheit“ einander gegenüberzustellen. Vielmehr sollten wir das Gebot zu Lieben, als die grundlegendste Lehre (Doktrin) der Kirche betrachten, und deswegen auch als die wichtigste Lehre die man beherzigen muss! Petrus sagt: „Vor allem aber liebt einander tief, denn die Liebe deckt viele Sünden zu“ (inklusive „Irrlehren“? 1.Petr. 4:8, siehe auch Kol. 3,14). Wenn die Liebe das „oberste Gebot“ ist, dann kann es ganz einfach kein anderes Gebot, keine Lehre, kein Programm geben, das mit ihr um die Spitzenposition kämpft. Die Liebe muss alleine oben stehen. Paul schlägt in dieselbe Kerbe, aber noch deutlicher, wenn er uns sagt, dass es egal ist, wie recht wir haben, wie spirituell begabt wir sind, wie intelligent oder klug wir sind, oder sogar, wie viel Glauben und Werke wir aufweisen: wenn diese nicht von Liebe begleitet sind, sind sie ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle (1. Kor. 13,1-3). Mit anderen Worten:

Richtige Lehre – Liebe = wertloser Lärm!

Wenn wir diese Lehre ernst nehmen, bedeutet dies, dass nichts – absolut nichts! – von Wichtigkeit ist wenn die Liebe nicht vorhanden ist … was bedeutet, dass die Liebe die wichtigste Lehre ist, die wir je verinnerlichen können … und dies heisst, dass unsere Bereitschaft zur Liebe das wichtigste Kriterium der Orthodoxie (Rechtgläubigkeit) ist … was wiederum bedeutet, dass wenn es überhaupt jemals angebracht ist, etwas als „Ketzerei“ oder „Irrlehre“ zu bezeichnen, dann ist es das Versäumnis zu lieben.

Und jetzt muss man sich fragen, warum Millionen von Menschen im Laufe der Geschichte wegen „ketzerischer“ Ansichten über Taufe, Abendmahl, Kirche und einer sehr langen Liste von anderen Lehren von Christen gefoltert und ermordet wurden, während gleichzeitig nicht mal eine einzige Person (so weit mir bekannt ist) offiziell unter Gemeindezucht gestellt wurde – geschweige denn wegen „Ketzerei“ angeschuldigt – aufgrund des Versäumnisses angemessen zu lieben (z.B. währenddem sie andere in Jesu Namen folterten und mordeten). Wir können all die richtige Lehre in der Welt haben, aber wenn wir es versäumen zu lieben, wie Christus uns geliebt hat, dann sind wir alle „Ketzer“.

Und jetzt muss ich gestehen, dass ich der „Ketzerei“ schuldig bin. Ich bin es wirklich. Ich habe nicht konsequent alle geliebt wie Christus mich geliebt hat.

Ich vermute, ich bin nicht allein.

Vielleicht sollten wir alle zögern, das Etikett „Ketzer, Irrlehrer“ jemand anderem anzuhängen. Welcher „Ketzerei“ auch immer sie schuldig sind, es ist nichts im Vergleich zu unserer eigenen „Ketzerei“ (siehe Matth. 7:1-3).

Lebe in der Liebe (Eph. 5:1)!

Greg Boyd

(Blog, 7. Mai 2011)

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